Zwei Läden, zwei Welten - und wie sie ein Bergdorf charakterisieren

Es gibt Orte, die laden zum Bleiben ein – nicht weil man muss, sondern weil man will. Und es gibt Orte, die erfüllen einen Zweck – und das spürt man auch. Zwei Beispiele, wie unterschiedlich ein Dorfladen gedacht, gelebt und gestaltet werden kann, zeigen sich exemplarisch in der Épicerie de Chandolin im Wallis und dem Dorfladen Beatenberg im Berner Oberland. Zwei Dörfer in den Schweizer Alpen, beide klein, beide mit atemberaubender Aussicht – und doch könnten die Welten, in denen ihre Läden agieren, unterschiedlicher kaum sein.

Die Épicerie de Chandolin: Ein Erlebnis aus einer Vision geboren

Besucht man die Website der Épicerie de Chandolin, spürt man sofort: Hier geht es um mehr als nur den täglichen Einkauf. Hier wird ein Lebensgefühl kuratiert, nicht ein Warenregal gefüllt. Schon visuell beginnt die Reise – die Website wirkt wie ein Gegenüber, das etwas zu erzählen hat. Viel Storytelling, stimmungsvolle Farben, eine reduzierte Typografie und eine Bildsprache, die Identität verleiht. Spätestens wenn die Bilder, die nicht professionell erscheinen, ankommt, riecht es förmlich nach frischem Brot, nach Walliser Käse, nach handverlesenen Delikatessen und nach einer Idee von Genuss, die man sich gönnen darf.

Die Épicerie ist kein Dorfladen – sie ist das neue Dorfzentrum. Kein Ort der Versorgung, sondern der Begegnung. Kein Ort des Erledigens, sondern des Mehrwerts. Hier treffen sich Gäste, Einheimische, Gwundrige. Das Sortiment ist lokal verankert und gleichzeitig weltoffen. Es ist kein „alles für alle“, sondern eine kuratierte Auswahl, die Lokales wertschätzt. Wer hier einkauft, nimmt nicht einfach einen Ziegenkäse mit – sondern ein Stück Kultur.

Die Betreiber:innen verstehen, dass Orte, die man erleben will, mehr bieten müssen als nur Funktionalität. Und so ist die Épicerie Teil einer grösseren Vision: Sie dockt an die touristische DNA des Ortes an, wird zum Lebensgefühl, zum erweiterten Wohnzimmer, zum alpinen Concept Store.

Der Dorfladen Beatenberg: Sicherstellen, was möglich ist

Anders der Dorfladen Beatenberg. Der Webauftritt wirkt wie aus einer anderen Zeit. Nicht retro, nicht charmant-altmodisch, sondern vor allem Information – mit dem Charme eines Word-Dokuments. Fotos, im Sinne “Hauptsache Bild”. Ein Logo, das eigentlich hübsch sein könnte, aber sich leider farblich am “Treffpunkt”-Brand anpasst, als eigenständig zu werden. Claim: “Herzlich Willkommen im Dorfladen Beatenberg!” mit Ausrufezeichen, das etwas etwas befiehlt, ohne es zu wollen.

Der Dorfladen Beatenberg ist Ausdruck eines pragmatischen Gedankens: Die Versorgung der Bevölkerung sicherstellen. Das ist ehrenwert – aber es reicht nicht. Denn wo kein Erleben stattfindet, entsteht auch keine Beziehung. Kein „Ich will da hin“, sondern ein „Ich muss da durch“.

Beatenberg, mit seiner einzigartigen Lage, thronend über dem Thunersee, mit Blick auf Eiger, Mönch und Jungfrau, könnte so viel mehr sein als ein Ausweich-Standort eines Lebensmittelladens. Doch was in Chandolin inszeniert wird, wird in Beatenberg organisiert. Es fehlt nicht an Schönheit – es fehlt an Vision. Die Gemeinde scheint den eigenen USP noch nicht erkannt zu haben: Stille, Weite, Aussicht, ein entschleunigtes Lebensgefühl. Das ist Gold wert – aber eben nur, wenn man etwas daraus macht. - Aber hierzu wäre ein ganz anderer Blogpost nötig.

Funktion versus Erlebnis

Diese Unterschiede erinnern an den Kontrast zwischen einem Boutique-Hotel und einem Touristenlager. Beide bieten ein Bett – aber nur eines davon schenkt dir das Gefühl eines Erlebnisses und Teil von etwas zu sein. Und dieses Gefühl entscheidet, ob Menschen wiederkommen – oder nur übernachten.

Ein weiterer Unterschied liegt im Selbstverständnis des Angebots: Die Épicerie hat einen Preis – und sie hat ihren Wert. Sie positioniert sich nicht über Rabatte, sondern über Qualität und sorgfältiger Auswahl. Wer hier einkauft, entscheidet sich bewusst für das Besondere. Nicht, weil es billiger ist, sondern weil es besser ist – für einen selbst, für die Region, für die Kultur.

Der Dorfladen Beatenberg hingegen scheint krampfhaft umzusetzen, was man auch im Tal haben kann - mit mehr Auswahl zu einem besseren Preis. Wer im Kampf gegen Discounter und Einkaufszentren verharrt, führt einen Kampf, den er auf dieser Ebene nicht gewinnen kann. Denn gegen günstigere Preise und grössere Sortimente hilft nur eines: Ein anderes Denken.

Vision schlägt Versorgung

Wer Menschen nicht nur versorgen, sondern erfreuen will, braucht mehr als einen Ort – er braucht eine Idee. Eine Vision. Etwas, das ausstrahlt. Etwas, das magnetisch wirkt. Chandolin zeigt, wie ein Dorf durch die Inszenierung eines Lädeli zur Marke wird. Wie Genuss, Kultur und Gemeinschaft zu einem attraktiven Mix verschmelzen. Das Dorfzentrum belebt sich von alleine. In Beatenberg prägen stattdessen zwei Ruinen das Dorfzentrum, obwohl es die natürliche Voraussetzung hat, zu einem Ort der Sinne zu werden. Aber dafür braucht es Mut. Nicht nur zu verwalten, sondern zu träumen. - Ich träume vom Moment, wenn Beatenberg zum Ort achtsamen Tourismus’ wird, den Menschen bewusst suchen, weil es diesen anderswo nicht gibt.

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R.I.P. dear Funnel. Willkommen im Zeitalter der Zugehörigkeit.