Mut zur Tiefe: Warum das Offensichtliche manchmal der falsche Weg ist.
Hast du dich heute Morgen für den schnellen Kaffee am Bahnhof entschieden oder hast du dir zu Hause die Zeit genommen, die Bohnen selbst zu mahlen und die Siebträgermaschine genutzt?
Seth Godin hat mich diese Woche mit einer Grafik inspiriert, die harmlos aussieht, aber Marken vor ihre wohl wichtigste Entscheidung stellt. Sie zeigt eine Matrix: Auf der einen Seite das "Simple und Offensichtliche". Auf der anderen das "Nuancierte und Komplexe".
Inspirierende Grafik von Seth Godin
Der Markt – und vielleicht auch dein erster Impuls als Unternehmer – drängt uns fast gewaltsam nach oben rechts. In den Quadranten von Simple & Obvious. Dort ist Airbnb. Dort ist Booking.com. Dort ist "Convenience". Es ist der Ort der geringsten kognitiven Last. Als Entwickler von Brand Identities sage ich dir jedoch: Oben rechts ist oft eine Falle. Zumindest dann, wenn du keine Commodity sein willst, sondern eine Marke mit Seele anstrebst. Oben rechts gibts immer jemanden, der es besser, günstiger, schneller oder edler kann.
Warum rennen alle zu Booking und Airbnb? Weil unser Gehirn ein Energiesparmodell ist. Es will schnelle, intuitive Entscheidungen ohne Anstrengung. Klick, gebucht, erledigt. Das schüttet kurzfristig Dopamin aus. Es befriedigt den Jagdinstinkt. Aber wir alle wissen, dass Bindung nicht durch Bequemlichkeit entsteht. Echte Markenbindung entsteht durch Resonanz. Und Resonanz passiert wenn unser Gehirn nachdenkt, abwägt und Werte prüft.
Lass mich dich mitnehmen in die Gedankenwelt unseres persönlichen Projekts "Zwischensinn" und "Pilgerhaus Schwendi". Wir suchen keine Dopamin-Junkies. Wir suchen Menschen, denen Bindung, Vertrauen und tiefe Zufriedenheit wichtig sind. Unser Gast im Pilgerhaus Schwendi ist kein "Tourist". Ein Tourist konsumiert Orte. Er will "Europe in 5 Days". Seine Währung ist Effizienz. Unser Gast sucht Identität, nicht Unterkunft: Er definiert sich darüber, nicht das zu tun, was alle tun. Er sucht "Friction" (Reibung): Er weiss instinktiv, dass Erkenntnis durch eine Auseinandersetzung mit etwas entsteht. Pilgerwege sind selten asphaltiert. Stille muss geübt werden. Dissonanz gehört dazu.
In der Start-up-Welt reden alle vom "Product-Market Fit". Ich spreche lieber vom Service-Market Fit. Passt die Art, wie ich diene, zu der Art, wie der Markt empfangen will? Würden wir die Premium-Apartments auf Airbnb (dem Quadranten oben rechts) listen, hätten wir sofortige Sichtbarkeit. Wir wären "ausgebucht". Aber wir hätten keinen "Fit". Wir hätten Gäste, die sich beschweren, dass es keinen Fernseher gibt. Wir müssten unsere Identität verwässern, um den Algorithmus der Masse zu befriedigen. Wir würden eine Ware verkaufen (ein Bett), keine Erfahrung (Zwischensinn).
Deshalb haben wir uns radikal für den Quadranten unten links entschieden: Nuanciert, Nische, Subtil. Es wird Geduld brauchen. Unsere Strategie ist eine kuratierte Hürde. Das macht jeden klassischen Conversion-Optimierer nervös: Wir bieten unser Haus nur über unsere eigene Website an – und nur mit einem persönlichen Login. Warum bauen wir eine Mauer vor unser Geschäft?
Pilgerhaus Schwendi | schwendi.swiss
Lass mich dir dafür die Neuropsychologie hinter dieser Strategie erklären: Wir machen es unseren Kunden absichtlich schwer. Das Login ist der Concierge an der Tür. Wir nutzen diese Hürde als selektiven Mechanismus. Wer nicht bereit ist, zwei Minuten Zeit zu investieren, um sich mit dem Konzept "Zwischensinn" auseinanderzusetzen, der wird auch nicht die Geduld haben, die Atmosphäre des Hauses zu respektieren. Wir filtern die "Laufkundschaft" heraus, bevor sie überhaupt anklopft. Das erspart uns langwierige Erklärungen vor Ort und garantiert den Gästen, die den Weg auf sich nehmen, genau die Ruhe, die sie suchen. Wer sich ein Login anlegt, hat das Konzept bereits verinnerlicht. Und sobald du den Zugang hast, gehörst du dazu. Du bist kein anonymer Booker, du bist Teil der Community. Das schafft psychologische Sicherheit und Exklusivität.
Seth Godins Matrix zeigt uns nicht, wo wir hingehen müssen, sondern wo wir wählen können. Der Massenmarkt ist laut, voll und preissensibel. In der nuancierten Nische kämpfst du mit Empathie, Intellekt und Haltung. Deshalb wähle weise!
Ich bewundere Marken, deren Zielgruppe nicht "alle" sind. Sie entwickeln eine Marke für die "Richtigen". Es braucht Mut, nicht jedem zu gefallen. Wenn wir Zwischensinn designen, designen wir keinen Umsatzstrom, wir schaffen eine Philosophie. Und manchmal bedeutet das eben, die Tür nicht sperrangelweit offen stehenzulassen, sondern sie nur denen zu öffnen, die wissen, warum sie klopfen.
Wie sieht es bei dir aus? Optimierst du noch für "Simple & Obvious" oder wählst du deine Kunden schon aus?